Spätgang über die Brücke

Heute blieb das Coworking länger hell als die Straße. Der Ventilator machte dünnes Meer, die Tastatur roch nach warmem Kunststoff und Pfefferminztee. Als ich das Licht ausknipste, lag der Flur wie ein angehaltener Atem vor mir. Ich nahm mir vor, heute nichts zu retten, was bis morgen warten kann. Ein Vorsatz mit kurzer Leine, aber immerhin eine Leine.

Draußen klebte der Asphalt. Ich fuhr mit dem Rad die Weser entlang, nur die beleuchteten Wege, Ampeln zählen wie Gebete: Rot, Rot, Grün. Die Stadt machte dieses metallische Nachtgeräusch, das nur im Sommer existiert. Zwei Jugendliche sprangen vom Steg, es roch nach Algen und Grillkohle. Mein Schatten fuhr neben mir her wie jemand, der zuhört, ohne zu raten.

Sicherheitsreflexe als Routine, nicht als Drama: Ich stecke die Kopfhörer weg, lasse das Handy griffbereit, halte am Kiosk kurz an, um die Menschenmenge im Blick zu haben. Kein Heldentum. Nur kleine Vorkehrungen, wie die Hand am Geländer auf alten Treppen. Heute kein Standort-Link, nur später ein „bin da“ an eine Freundin. Anwesenheit als leiser Punkt am Satzende.

Vorhin habe ich einem Kunden „morgen früh“ geschrieben und nichts dazu erklärt. Der Satz stand da, selbsttragend, und ich stand mit. Es ist seltsam, wie sehr sich der Körper daran erinnert, wer über ihn verfügt. Die Schultern wurden leichter, als hätte jemand das unsichtbare Rucksackgestell gelockert. Ich atmete in die Lücken hinein, die die E-Mails offenließen.

Auf der Brücke blieb ich stehen. Die Stadt lag da wie eine Maschine, die gerade in den Leerlauf fällt. Lichter woben sich in die Wasseroberfläche, und der Fahrradweg war ein Nähfaden, der alles zusammenhielt. Eine Möwe schrie, beleidigt von der Schönheit, und ich musste lachen. Ich aß einen Pfirsich, der zu reif war, der Saft lief bis zur Handwurzel. Es fühlte sich an wie ein kleiner Freispruch.

Zu Hause schob ich das Rad in den Hof, schloss ab, ließ den Schlüssel eine Sekunde zu lange in der Hand. Die Wohnung war dunkel, aber nicht leer. Ich stellte Wasser an, schrieb „bin da“ und merkte, wie der Ton im Raum sich veränderte. Kein Echo, nur Gegenwart. Ich legte das Telefon weg und ließ den Rest unkommentiert. Morgen ist früh genug, die Welt wieder zusammenzubauen.

Treppen, Salz und Licht

Im Ausland heute: Lissabon für vier Wochen, eine Wohnung mit Fliesen, die kühler sind als meine Gedanken. Das Meer ist nur als Salz am Handgelenk da, der Rest sind Hügel und Stufen. Die Straßenbahn klingelt anders als in Bremen, heller, als würde sie lachen. Ich habe meinen Koffer in den Flur gewuchtet und den Schlüssel zweimal umgedreht, bis der Riegel ein kleines Ja sagte.

Ich reise allein. Das ist weniger Heldentum als Logistik. Ich schicke L. und zwei Freundinnen meinen Standort, bevor ich losgehe, und verabrede mich an Orten, die nach Kaffee riechen und nicht nach Ausrede. Heute war es ein Platz mit Orangenbäumen; die Luft schmeckte nach Zucker und Staub. Ein Kellner hielt mir die Tür auf, ohne mir den Rücken zuzutrauen. Ich mochte das. Höflichkeit ohne Zugriff.

Mein Portugiesisch besteht aus Bitte, Danke und Entschuldigung, dazu die Universalzeichen der Hände. Trotzdem passieren diese guten Missverständnisse, aus denen neue Wege werden. Ich habe nach „Tinteiro“ gefragt und einen Füller gekauft, der in der Sonne grün schimmert. Auf dem Rückweg habe ich mich verlaufen, nur leicht, und eine Treppe gefunden, die eine ganze Straße war. Unten eine Frau mit rotem Kopftuch, die mir Wasser reichte, als hätte sie gewusst, dass ich gerade angeben wollte, stark zu sein.

Arbeit findet hier im Schatten statt, zwischen zwei Balkontüren. Ich stelle mir Timer, die keine Diktatoren sind. Wenn er klingelt, stehe ich auf, sehe auf die Dächer und denke, dass mir niemand die Welt schuldet, aber dass ich trotzdem Ansprüche habe: auf Ruhe, auf klare Blicke, auf E-Mail-Pausen, die länger sind als ein Atemzug. Ich sage einem Kunden „morgen früh“ und meine es wörtlich. Die Welt geht nicht unter. Sie rollt einfach weiter den Hügel hinab.

Abends nehme ich die kleine gelbe Linie zum Miradouro. Bei Paaren um mich herum klackern Eiswürfel, einer streicht einer anderen über den Nacken. Ich setze mich so, dass ich Rücken an Mauer sitzen kann, Blick frei. Ein Gefühl von in Ordnung sein. Jemand spielt „Grândola“, schief, aber mit Herz, und für einen Moment bin ich an allen Küsten zugleich: Nordsee, Adria, Tejo.

Auf dem Heimweg lasse ich das Handy in der Tasche. Ich kenne die Treppen jetzt im Halbdunkel: links der Riss im Geländer, rechts der Laden mit den Kerzen. Zu Hause stellt sich die Stille neben mich wie eine freundliche Nachbarin. Ich schreibe meinen Namen ins Notizbuch, langsam, als wäre er neu hier. Vielleicht ist er das.

Pfandbons und Freiheit

Geschieden seit neun Monaten. Auf meinem Schlüsselbund zwei Schlüssel weniger, dafür einer mehr für den Fahrradkeller. Heute habe ich die Pfandkiste runtergetragen; die Flaschen klirrten wie kleine Abrechnungen. Der Automat im Supermarkt spuckte einen Bon aus, der sich anfühlte wie ein Schein, obwohl er es nicht ist. Neonlicht, die Luft roch nach nasser Pappe und süßem Waschmittel. Ich legte den Bon zwischen Portemonnaie und Quittungen, als würde ich mir selbst Trinkgeld geben.

Geld ist jetzt eine Sprache mit weniger Adjektiven. Ich kaufe Butter, wenn sie im Angebot ist, und setze mich daneben wie eine, die wachsam liebt. Mein Konto ist ein See mit Flachwasser; man kann rein, aber nicht weit. Ich arbeite viel und werde selten fertig. Der Ex überweist pünktlich, das ist eine Tatsache, die weder Lob noch Drama braucht. Wir schreiben uns sachlich, wie zwei Menschen, die aus einem Haus ausgezogen sind und den Flur noch teilen.

Auf dem Heimweg habe ich die Anzeige für eine gebrauchte Lampe geöffnet. Abholung nur heute, „erste*r bekommt sie“. Ich habe der Freundin meinen Standort geschickt, ein gewohntes Ping aus dem Daumen, und bin hingegangen. Der Verkäufer war freundlich, der Flur roch nach frisch gekochtem Reis. Ich habe bar bezahlt, die Lampe vorsichtig in den Jutebeutel. Solche Mikro-Transaktionen sind kleine Prüfungen: Kann ich mich entscheiden, ohne jemand zu fragen? Kann ich mir trauen, auch wenn es nur um Licht geht? Ja.

Zu Hause habe ich die Lampe auf den Küchentisch gestellt, Wasser gekocht für Tee. Ich mag es, wenn Dinge sichtbar liegen, die niemand erklären muss: eine leere Schüssel, ein Schlüsselbund, ein Zettel mit „Ruf an, wenn du da bist“. Die Wohnung ist stiller geworden, seit die Stimmen sich aufgeteilt haben. Die Stille ist nicht leer. Sie hat einen Klang wie die erste Minute, bevor Musik beginnt.

Ich habe den Bon eingelöst und mir Pfirsiche gekauft, zwei große, die sofort kleckern. Auf der Treppe habe ich einen angebissen, Saft bis zur Handwurzel, süß wie ein freigeschalteter Nachmittag. Ich habe an der Haustür kurz innegehalten, aus reiner Angewohnheit nach innen gelauscht – keine Gefahr, nur das Summen der neuen Lampe. Und ich dachte: Freiheit ist manchmal nur die Summe aus Pfandbons, klugen Pings und dem Recht, eine gute Frucht sofort zu essen.

Heute Abend rufe ich nicht zurück. Das Telefon kann warten. Ich lerne, Reichtum nicht in Zahlen zu messen, sondern in Dingen, die ich mir erlaube. Der Kühlschrank summt zustimmend. Ich nicke zurück.

Wartezimmer mit Meer

Krank seit Wochen, aber nicht dramatisch genug fürs Kino. Das Wartezimmer roch heute nach Desinfektionsmittel und Sommersweat, die Stühle klebten ein bisschen an der Haut. Auf dem Tisch lag eine Illustrierte mit Sandstränden; ich habe sie umgedreht, weil der Horizont mir zu gerade war. Mein Körper spricht gerade in Flüstern, in diesen zögernden Silben zwischen „geht schon“ und „lass“. Ich höre zu, so gut ich kann.

Ich habe vor dem Termin meiner Freundin den Standort geschickt, Gewohnheit wie Zähneputzen. Nicht aus Angst, eher aus Respekt vor dem Organismus, der ich bin. An der Anmeldung habe ich um eine Ärztin gebeten, den Ton freundlich, nicht entschuldigend. Es ist ein kleines Schloss, das ich seit Jahren mit mir trage. Manche Türen brauchen eben den richtigen Schlüssel, und wenn keiner da ist, gehe ich wieder. Heute war einer da.

Im Untersuchungsraum raschelte das Papier auf der Liege wie eine schlechte Wetterwarnung. Das Gel auf der Haut war erst kalt, dann vergessen. Die Ärztin sprach in klaren Sätzen, ließ ihre Pausen stehen, und ich füllte sie nicht. Es ist erstaunlich, wie viel Frieden entsteht, wenn niemand die Lücken mit Mutmaßungen stopft. Mein Herz klang im Lautsprecher wie eine Waschmaschine, die gerade den Takt sucht; wir beiden nickten dazu, als wäre es Musik, nur für uns.

Draußen fuhr die Straßenbahn vorbei, dieses Bremische Quietschen, und ich dachte, dass der Körper ein Stadtplan ist: Man kennt die großen Straßen, aber die Abkürzungen zeigen sich erst, wenn man sie zu Fuß geht. Auf dem Heimweg habe ich mir Pfirsiche gekauft, diese, die in der Hand sofort weich werden und den Saft über das Handgelenk schicken. Ich aß einen im Stehen, vor dem Späti, und fühlte mich unverschämt lebendig für jemanden mit „unspezifischer Erschöpfung“ auf dem Zettel.

Zu Hause legte ich das Messer quer über das Brett, ein kleines Versprechen fürs Abendbrot. Ich schrieb eine Notiz: „Heute kein Heldentum.“ Ich stellte Wasser neben das Bett, stellte das Handy auf laut, aber drehte die Welt leiser. Es gibt Tage, an denen Fortschritt nicht aussieht wie Sprinten, sondern wie Halten. Der Körper dankt in Spätzügen.

Die Ärztin sagte, es sei wahrscheinlich nichts, das nicht vergehe, wenn ich es lasse. Ich übe das Lassen. Ich übe auch das Bitten: um Hilfe beim Tragen, um Zeit, um Ruhe. Vielleicht klingt mein Herz morgen schon runder. Und falls nicht: Ich kenne inzwischen ein paar Wege, die langsamer sind und trotzdem ankommen.

Zwischen Auftrag und Atem

Heute kleben die Finger am Laptop, Sommer auf der Haut, der Ventilator macht sein bestes Meer. Auf dem Balkon trocknet ein Handtuch, das nach Chlor und Tomatenpflanzen riecht. Die Rechnungen liegen unter dem Kerzenständer, damit der Wind sie nicht vom Tisch holt. Ich habe mir für zwölf Uhr fünfzehn einen Wecker gestellt: Zeit, aufzuhören. Nicht weil die Arbeit fertig wäre, sondern weil ich es bin.

L. kommt um dreizehn Uhr aus der Sommerbetreuung nach Hause, mit den üblichen Geschichten – wer heute wen im Kickerturnier vernichtet hat, welche Narbe jetzt eine zu erzählen hat. Ich habe das Essen schon geschnitten: Gurken, Brot, diese Paprika, die nach Ferien schmeckt. Das Messer liegt quer über dem Brett, so, dass ich es gleich dort wieder aufnehmen kann, anstelle der hundert Tabs, die blinken wie hungrige Mäuler. Tabs sind keine Kinder, sage ich mir. Tabs dürfen warten.

Vorhin rief ein Kunde an, ob „kurz“ ein Live-Fix ginge, „nichts Wildes“. Nichts Wildes heißt meistens: ersticken, nur leise. Ich habe ja gesagt und dann nein. Ja: ich schaue drauf. Nein: heute nicht sofort. Ich habe die Stimme tiefer gemacht, an der Stelle, wo in mir sonst jemand die Klinke runterdrückt und Türrahmen wird. Kein Drama. Nur eine kleine Verschiebung im Gewicht. Meine Schulter ist immer noch da, aber diesmal gehört sie mir.

Der Körper merkt sich solche Entscheidungen. Er weiß, wo der Schlüssel liegt, wie lang der Weg ist, welcher Bus heller beleuchtet ist. Ich schreibe L.s Lehrerin eine Nachricht, dass wir später zum Elternabend kommen, und eine Freundin bekommt wie immer meine „bin unterwegs“-Mitteilung, wenn ich abends noch raus muss. Keine große Sache. Eine Sammlung kleiner Sicherheiten, wie Pflaster im Rucksack, die man selten braucht und doch dabei hat.

Als der Wecker klingelt, lasse ich den Cursor stehen, mitten im Satz. Ich mag das: Das Unfertige darf unverschämt offen daliegen, damit ich später weiteratmen kann, ohne erst den Deckel zu suchen. Ich stelle zwei Gläser auf den Tisch, halte sie kurz ans Licht wie Beweise dafür, dass Wasser reicht. Draußen ruft jemand nach einem Hund, drinnen riecht es nach warmem Plastik und Pfefferminze.

Wenn L. gleich reinkommt, wird es laut. Ich übe leises Lautsein: Ich höre zu, ich esse mit, ich lache. Der Rest wartet. Es ist erstaunlich, wie viel Freiheit in einer fünfzehnminütigen Grenze passt. Man muss sie nur hinstellen und stehen lassen.

Über mich – Theresia

Ich heiße Theresia, Mitte dreißig, und laufe die meiste Zeit ein paar Schritte zu schnell. Vielleicht, weil mein Kopf immer zwei Ecken weiter ist als meine Schuhe. Ich lebe städtisch – Bremen meistens, manchmal Berlin –, zwischen Straßenbahnquietschen, Secondhand-Mänteln und Notizen auf zerknickten Kassenzetteln. Ich schreibe, damit ich hören kann, was ich denke.

Was hier passiert, ist ein kleines Spiel mit Möglichkeiten: In jedem Eintrag bin ich dieselbe und doch an einer Weggabelung anders abgebogen. Mal verliebt, mal allein, mal mutig, mal müde. Kein Theater, kein Pose-Ich, eher die Innenbeleuchtung: Gerüche, Haut, die seltsame Uhr im Bauch, die immer dann tickt, wenn es ruhig werden könnte. Die Welt draußen ist laut; ich suche die feinen Geräusche, die man nur findet, wenn man stehen bleibt.

Ich arbeite an der Schnittstelle von Kultur, Technik und dem, was Menschen miteinander machen: Kommunikation, Begehren, Care. Ich weiß, wie man Geräte einrichtet und Grenzen hält. Ich bin feministisch sozialisiert, das heißt: Ich habe mir beigebracht, zu gehen, wenn ein Raum nicht für mich gebaut wurde – und zu bleiben, wenn ich ihn brauche. Consent ist für mich kein Formular, eher ein Körperwissen: Blick, Atem, Abstand. Ich schreibe darüber nicht, um zu belehren, sondern um mich selbst zu sortieren.

Wenn ich mich in diesen Texten wiederfinde, ist das Absicht. Wenn du dich in ihnen wiederfindest, ist es Zufall mit System: Wir teilen mehr, als wir zugeben. Ich glaube an die Nützlichkeit von kleinen Wahrheiten – die Tasse am Fensterbrett, die Hand am Geländer, der Heimweg, den man jemandem schickt. Ich glaube auch an das Recht auf Unschärfe. Man darf Dinge denken, ohne sie gleich zu besitzen.

Dies ist kein Ratgeber. Hier gibt es keine Zehn-Punkte-Listen. Nur kurze Strecken Licht in Richtungen, die sonst dunkel bleiben. Manchmal wird es zärtlich, manchmal derb, oft beides. Wenn ein Absatz dich stolpern lässt, ist er vielleicht richtig. Wenn du ihn nicht magst, darf er bleiben: Nicht jedes Zimmer ist für jede*n.

Falls du wissen willst, worum es „eigentlich“ geht: um Freiheit in kleinen Dosen. Einatmen. Ausatmen. Weitergehen. Und an guten Tagen: stehen bleiben, weil es endlich reicht.